[[ANSCHAUUNG]] | [[AUGE DES GEISTES]] | [[URPFLANZE]] | [[BESONDERS RELEVANT]] [[Geistige Anschauung]] | [[Geistige Konstruktion]] ##### Geometrie ist sinnlichkeitsfreies Denken, weil konstruiert Wir können aber im Geiste einen Kreis bilden und so die Gesetze des Kreises uns bilden. So müssen wir den Kreis aus dem eigenen Geist herausarbeiten. Das ist es, was man in den Geheimschulen sinnlichkeitsfreies Denken genannt hat. Die Mathematik ist nicht beliebt, und doch ist sie das einzige sinnlichkeitsfreie Denken, das in unseren Schulen getrieben wird. Die meisten werden einen aber auslachen, wenn man sagt, daß es noch andere [[Begriff & Idee (Kommentar)|Begriffe]] gibt, die rein geistig gefunden werden können, als die über Raum und Zahl und Figuren. Man mißachtet und verachtet die Philosophen und Denker, die behauptet haben, daß der Mensch ein Ideengebäude aufstellen könne, das mit der Welt im Einklange steht. ##### Goethe fand in innerer, geistiger Produktion das schaffende Wesen der Urpflanze - dieses ist zugleich geschaut Derjenige, der innerhalb unserer deutschen Bildung und Kultur für andere Gebiete als für Raumgebilde in der Geometrie solche sinnlichkeitsfreien Ideen aufgestellt hat, ist wiederum Goethe, und es ist eine wunderbare, eine gewaltige Errungenschaft des Geisteslebens der Menschheit, was Goethe geleistet hat mit dem Typus der Pflanzen, mit der Urpflanze, und dem Typus der Tiere, dem Urtier. Was sind das für Gedanken? Goethe selbst sucht sie in seiner Weise klarzumachen. Viele haben darüber geschrieben. Aber das meiste ist Unsinn, weil die meisten nicht die Möglichkeit haben, zu verstehen, wie sich ein geistig konstruierter Kreis, dessen Gesetze wir einsehen können, verhält zu dem auf der Tafel gezeichneten Kreis, der nichts ist als eine Anzahl Kreidepartikelchen. So aber verhält sich dasjenige, was Goethe die Urpflanze nennt, zu der äußerlich-sinnlich wahrnehmbaren Pflanze. Draußen sind die verschiedenen Pflanzen - so dachte Goethe -, die eine sieht so, die andere so aus. Aber in uns lebt eine innere geistige Kraft, durch die wir imstande sind, aus innerer Produktion heraus den [[Begriff & Idee (Kommentar)|Begriff]] der Urpflanze zu finden. Die Botaniker haben gedacht, Goethe habe eine unvollkommene Pflanze gemeint. Unsinn ist das! Er meinte die geistig geschaute Pflanze! Das ist es, was ich in einem meiner Bücher versucht habe nachzukonstruieren als diese Urpflanze, so wie man auch den Kreis im Geiste konstruiert. **Goethes Urpflanze enthält, wenn man im Geiste in der Lage ist, alle Möglichkeiten aus ihr hervorzuzaubern, alle möglichen Pflanzen; sein Urtier enthält alle möglichen Tiere. Es ist eine geistige Organik, was Goethe da geschaffen hat. Sie gibt uns die Möglichkeit, das, was nicht unseren Sinnen erscheinen kann, im Geiste zu erschaffen.** Da gehen wir allerdings von einer tiefen, bedeutsamen geistigen Tatsache aus. Und Goethe ging von dieser Tatsache aus, von welcher ihm das, was er als Urpflanze fand, zuteil wurde. **Das war für ihn nicht eine bloße Idee, sondern es war das Schaffende in allen Pflanzen.** Das Urtier war für ihn das Schöpferische in jedem Tier. ##### Idee der Urpflanze wurde in Goethes Geist "auferweckt" bzw. "hervorgezaubert" - "geheimes Band" zwischen Geist und Natur Berühmt geworden ist das von mir oft angeführte Gespräch, das gleich im Anfange ihrer Bekanntschaft Goethe und Schiller miteinander über die Pflanzen führten, als sie aus einem Vortrag der Naturforschenden Gesellschaft in Jena kamen. Da sagte Schiller, es sei unbefriedigend, die Wesen so zu betrachten, daß man nicht ihren Zusammenhang sehen könne. Goethe antwortete, daß es ja auch eine andere Art geben könne, wo man das Gemeinsame, das geistige Band, das alle zusammenhält, sehen könne. Goethe schildert uns das Gespräch, und wie er dann seinen Bleistift nahm und mit einigen charakteristischen Strichen das Bild seiner Urpflanze hinzeichnete. Da sagte Schiller, der spekulative Dichter: Das ist aber keine Tatsache, das ist eine Idee, keine Wirklichkeit. - Dann, sagte Goethe, wenn das eine Idee ist, sehe ich die Ideen draußen mit den Augen! - **In der Pflanze ist die das Leben schaffende Kraft. Wegen der tiefen Anschauung, die der Goethesche Geist von einem solchen Sein hatte, war es möglich, daß in seinem Geiste dasjenige auferweckt wurde, was in allen Tieren und Pflanzen schafft. Es besteht ein geheimes Band zwischen dem menschlichen Innern und dem, was in der ganzen Tier- und Pflanzenwelt ausgebreitet ist. Wenn der Mensch in sich hervorzaubert die Urpflanze, so zaubert er jene Form hervor, nach der die Pflanzen geschaffen worden sind. Wir empfinden uns auf diese Weise als geistige Teilnehmer an den Produktionen der Natur.** Es ist für Goethe ein Untertauchen in die Dinge und ein Hervorzaubern des Geistes, der in den Dingen lebt, in seinem Geiste. Das stellt Goethe vor den Menschen hin. ([[GA 056]], [28.11.1907, S. 115 ff.](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga056.pdf#page=115&view=Fit)) ___ Die Erkenntnis der Seele und des Geistes (GA 056). Rudolf Steiner Verlag, 2. Aufl., Dornach 1907-1908[ ](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga056.pdf#page=115&view=Fit).