[[AUGE DES GEISTES]] | [[URPFLANZE]]
[[Goethe & Schiller]] | [[Sinnlich-übersinnliche Anschauung]]
Schiller hatte gefunden, das sei ja alles recht schön und gut, aber man habe kein Ganzes, es zerbröckele sich alles in lauter Einzelheiten, es sei keine Überschau da. Goethe nahm ein Blatt und zeichnete vor Schillers Augen eine ideelle Pflanze auf, eine Pflanze, die man nirgendswo äußerlich findet, von der er aber glaubte, daß sie für ihn als sinnlich-übersinnliche Form erfaßbar sei und in jeder Pflanze lebe, so daß jede Pflanze nur eine besondere Ausgestaltung dieser, wie er sagte, Urpflanze sei. Also etwas, was niemals da oder dort mit Augen zu finden ist, zeichnete Goethe auf. Schiller, der in solchen Dingen damals noch nicht ganz zu Hause war - es war in den Anfängen der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts -, konnte sich gar nicht zurechtfinden in dem, was da Goethe mit dieser Urpflanze wollte. Da sagte er: Ja, das ist eine Idee, es ist keine Anschauung; das nimmt man nirgends wahr! - Goethe wurde unwillig über diesen Einwand und sagte: Wenn das, was ich hier gezeichnet habe, eine Idee ist, so nehme ich meine Ideen mit Augen wahr! - Nun, das war gewiß nach der anderen Seite wiederum etwas extrem ausgedrückt, etwas übertrieben. Aber Goethe fühlte, daß er nicht bloß eine abstrakte Idee aufgezeichnet habe, sondern etwas, was sich ihm mit einer solch inneren Notwendigkeit in der Seele ergab, wie sich für das Auge das einzelne Pflanzenleben ergibt, wenn das Auge eben den Blick auf die einzelne Pflanze richtet. Dieses Leben mit dem Sinnlich-Übersinnlichen, wie er es nannte, das war für Goethe eine Wirklichkeit, das war für Goethe eine Realität. ([[GA 065]], [15.04.1916, S. 639](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga065.pdf#page=639&view=Fit))