[[EPISTEMOLOGIE]] | [[BACON]] [[Beobachtung]] | [[Methode]] ##### Idealistische Methode auf empirischer Basis Wir haben uns darauf beschränkt, Goethes Ansicht einfach hinzustellen. Wie sich dieselbe zum Darwinismus in seiner gegenwärtigen Form verhält: darüber sich ein Urteil zu bilden, überlassen wir diesmal dem Leser.[^8] Wir wollen nur zum Schlüsse noch ein Wort über die _Methode_ sagen, durch die Goethe zu seinen Resultaten gelangt. Goethes naturwissenschaftliche Ansichten beruhen auf _idealistischen Forschungsresultaten,_ die auf einer _empirischen_ Basis ruhen.[^9] Der Typus ist _ein_ solches idealistisches Forschungsresultat. Wir wissen aus jenem vielangeführten Gespräch mit Schiller, daß Goethe den empirischen Charakter dieses «Typus» entschieden betonte.[^10] Er wurde ärgerlich, ab Schiller ihn eine «Idee» nannte. Es war das in jener Zeit, wo ihm die ideelle Natur desselben selbst noch nicht recht klar war. Er war sich damals nur bewußt, daß er zu seiner «Urpflanze» durch sorgfältige _Beobachtung_ gekommen war. Daß er aber gerade auf diese Weise zu einer «Idee» gelangt ist, das erkannte er noch nicht. Er hielt noch an der Ansicht der einseitigen Empiriker fest, welche glauben, das _Beobachtbare_ erschöpfe sich in den Gegenständen der äußeren Sinneswahrnehmung. Aber gerade Schillers Bemerkung veranlaßte ihn, über diesen Punkt weiter nachzudenken. Er sagte sich: «Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung aussprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten! Der erste Schritt war getan.»[^11] ##### Theorie der Beobachtung Nämlich der erste Schritt, um durch weiteres Nachdenken zu einer befriedigenden Lösung der Frage zu kommen: wie sind die Ideen des Typus (Urpflanze, Urtier) festzuhalten, wenn man streng auf dem Boden der Beobachtung, der Erfahrungswissenschaft stehenbleiben will? Wie ist der Einklang zwischen der Methode und dem Grundcharakter des Resultates herzustellen? Durch gewöhnliches Beobachten der Dinge kommen wir doch nur zur Kenntnis von bloßen individuellen Einzelheiten und zu keinen Typen. Welche Modifikation hat das Beobachten zu erleiden? Goethe mußte zu einer «Theorie der Beobachtung» getrieben werden. Es sollte festgestellt werden: wie muß man beobachten, um wissenschaftlich verwertbare Resultate im obigen Sinne zu erhalten? In dieser Untersuchung hatte Goethe nur einen Vorgänger, dessen Denkweise aber der seinigen ziemlich fremd war: _Francis Bacon._ Dieser hat _gezeigt:,_ wie man den Erscheinungen der Natur gegenübertreten müsse, um nicht zufällige, wertlose Tatsachen zu erhalten, wie sie sich der gewöhnlichen naiven Anschauung darbieten, sondern Resultate mit dem Charakter der _Notwendigkeit_ und _Naturgesetzlichkeit._ ##### Gemeiner Empirismus, abstrakter Rationalismus, rationeller Empirismus Goethe versuchte dasselbe auf seinem Wege. Bisher ist als Frucht dieses Nachdenkens nur der Aufsatz: _«Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt»_ bekannt.[^12] Nun erfahren wir aber aus einem Briefe Goethes an Schiller vom 17. Januar 1798[^13], daß der erstere seinem Schreiben einen Aufsatz beilegt, der die Prinzipien seiner naturwissenschaftlichen Forschungsweise enthält. Ich vermutete aus Schillers Antwort vom 19. Januar 1798, daß dieser Aufsatz wichtige Aufschlüsse über die Frage enthalten müsse, wie sich Goethe den Grundbau der Naturwissenschaft gedacht habe, und versuchte dann in der Einleitung meines zweiten Bandes von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften[^14] denselben nach Schillers Ausführungen zu rekonstruieren. Zu meiner besonderen Befriedigung fand sich nun dieser Aufsatz genau in der von mir vorher konstruierten Form im Goethe-Archiv vor. Er gibt tatsächlich über die Grundansichten Goethes über die naturwissenschaftliche Methodik und über die Bedeutung und den Wert verschiedengearteter Beobachtungen eingehende Aufschlüsse. Der Forscher müsse sich erheben vom _gemeinen Empirismus_ durch das Zwischenglied des _abstrakten Rationalismus_ zum _rationellen Empirismus._ Der gemeine Empirismus bleibt bei dem unmittelbaren Tatbestand der Erfahrung stehen: er kommt nicht zu einer Schätzung des Wertes der Einzelheiten für eine Auffassung der Gesetzlichkeit. Er registriert die Phänomene nach ihrem Verlaufe, ohne zu wissen, welche von den Bedingungen, die dabei in Betracht kommen, _notwendig_ und welche _zufällig_ sind. Er liefert daher kaum mehr als eine Beschreibung der Erscheinungswelt. Er weiß immer nur, _was_ vorhanden sein muß, damit eine Erscheinung eintrete, aber er weiß nicht, was _wesentlich ist._ Daher kann er die Phänomene nicht als eine notwendige Folge ihrer Bedingungen darstellen. Das nächste ist, daß der Mensch über diesen Standpunkt hinausgeht, indem er an den Verstand appelliert und so auf dem Wege des Denkens sich über die Bedingungen klar werden will. Dieser Standpunkt ist wesentlich jener der _Hypothesenbildung._ Der Rationalist _sucht_ die Ursachen der Erscheinungen nicht; er ersinnt sie; er lebt in dem Glauben, daß man durch _Nachdenken_ über eine Erscheinung herausfinden könne, warum sie erfolgt. Damit kommt er natürlich ins Leere. Denn unser Verstand ist ein bloß formales Vermögen. Er hat keinen Inhalt außer jenem, den er sich durch Beobachtung erwirbt. Wer unter Voraussetzung dieser Erkenntnis doch nach einem _notwendigen_ Wissen strebt, der kann dem Verstande dabei nur eine vermittelnde Rolle zuerkennen. Er muß ihm das Vermögen zugestehen, daß er die Ursachen der Erscheinungen _erkennt,_ wenn er sie _findet;_ nicht aber jenes, daß er sie selbst _ersinnen_ könne. Auf diesem Standpunkte steht der _rationelle Empiriker._ Es ist Goethes eigener Standpunkt. «Begriffe ohne Anchauungen» sind leer, sagt er mit Kant; aber er setzt hinzu: sie sind notwendig, um den Wert der einzelnen Anschauungen für das Ganze einer Weltanschauung zu bestimmen. Wenn nun der Verstand in dieser Absicht an die Natur herantritt und diejenigen Tatsachenelemente zusammenstellt, welche einer _inneren_ Notwendigkeit nach zusammengehören, so erhebt er sich von der Betrachtung des _gemeinen Phänomens_ zum _rationellen Versuch,_ was unmittelbar ein Ausdruck der objektiven Naturgesetzlichkeit ist. Goethes Empirismus entnimmt alles, was er zur Erklärung der Erscheinungen heranzieht, aus der Erfahrung; nur die Art, wie er es entnimmt, ist durch seine Anschauung bestimmt. Jetzt begreifen wir vollständiger, wie er die oben mitgeteilten Worte über seine beabsichtigte Morphologie sprechen konnte, daß sie die Idee einer «neuen Wissenschaft» enthalte «nicht dem Inhalt», sondern «der Ansicht und Methode» nach.[^15] ([[GA 030]], [[Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs (1891)|1891]], [[Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs (1891)#^6i8abi|S. 284 ff.]]) ___ Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs (1891). (GA 030). Rudolf Steiner Verlag, 3. Aufl., Dornach 1989[ ](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga030.pdf#page=284&view=Fit). [^8]: Ausgeführt, freilich damals ohne die Materialien des Goethe-Archivs zu kennen, haben wir dieses Verhältnis in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (Kürschners «Deutsche National-Literatur»), Goethes Werke, Band XXXIII und XXXIV. [^9]: Die nähere Bestimmung und der Beweis dieses Satzes sind zu ersehen aus Goethes "Werken (Kürschners «Deutsche National-Literatur»), Band XXXIV, S. XXXVII ff. [^10]: Siehe den Aufsatz: «Glückliches Ereignis» (Kürschners «Deutsche National-Literatur»), Goethes Werke, Band XXXIII, S. 108-113. [^11]: Siehe «Glückliches Ereignis», a.a.O., S. 112. [^12]: Siehe Goethes Werke (Kürschners «Deutsche National-Literatur»), Band XXXIV, S. 10-21. [^13]: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, 2. Band, S. 10 ff. [^14]: Goethes Werke (Kürschners «Deutsche National-Literatur»), Band XXXIV, S. XXXIX ff. [^15]: Vgl. Goethes Brief an Hegel _vom_ 7. Oktober 1820 (Fr. Strehllce, Goethes Briefe, Erster Teil, S. 240): «Es ist hier die Rede nicht von einer durchzusetzenden Meinung, sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren sich ein jeder als eines Werkzeugs nach seiner Art bedienen möge.»