[[ERKLÄRUNG]] | [[MORPHOLOGIE]]
[[Organik]] | [[Wissenschaft]]
##### Goethe wollte eine wissenschaftliche Organik mit eigenen Axiomen und Methoden
Man hat vielfach behauptet, das Organische sei nur dann zu erklären, wenn man die Gesetze des Anorganischen einfach in das Reich des Belebten herübernehme. Die Versuche, eine Wissenschaft der Lebewesen auf diese Weise zu begründen, sind auch heute noch auf der Tagesordnung. Es war aber Goethes großer Gedankenflug, der ihn erkennen ließ, daß man auch dann an der Möglichkeit einer Erklärung des Organischen nicht zu zweifeln brauche, wenn sich die anorganischen Naturgesetze hierzu als unzulänglich erweisen sollten. Soll denn unsere Fähigkeit zu erklären nur so weit reichen, als wir die Gesetze des Anorganischen anwenden können? Was Goethe wollte, war nichts anderes, als: alle dunklen und unklaren Vorstellungen wie Lebenskraft, Bildungstrieb und so weiter aus der Wissenschaft verbannen und für sie Naturgesetze auffinden. Aber er wollte für die Organik Gesetze suchen, wie man sie für die Mechanik, Physik, Chemie gefunden hat, nicht einfach die in diesen andern Gebieten vorhandenen herübernehmen. Der zerstört das Reich des Organischen, der es einfach in das des Unorganischen aufgehen läßt. Goethe wollte eine selbständige Organik, die ihre eigenen Axiome und ihre eigene Methode hat. Dieser Gedanke setzte sich immer mehr bei ihm fest, und «Morphologie» wurde ihm allmählich der Inbegriff alles dessen, was zu einer befriedigenden Erklärung der Lebenserscheinungen aufgebracht werden muß. So lange man nicht alle Bewegungserscheinungen aus Naturgesetzen ableiten konnte, gab es keine Mechanik; so lange man die einzelnen Orte, welche die Himmelskörper einnehmen, nicht durch gesetzliche Linien zusammenzufassen imstande war, gab es keine Astronomie; so lange man die Lebensäußerungen nicht in Form von Prinzipien aufzufassen in der Lage ist, gibt es keine Organik, sagte sich Goethe. Eine Wissenschaft, die das Organische in seinem Zentrum erfaßt und die Gesetze seiner verschiedenen Gestaltungen bloßlegt, schwebte ihm vor. Nicht die Formen der Organe allein, nicht den Stoffwechsel und seine Gesetze für sich, nicht die anatomischen Tatsachen für sich wollte er erfassen; nein, er strebte nach einer Totalauffassung des Lebens, aus der sich alle jene Teilerscheinungen ableiten lassen. Er will eine Wissenschaft, zu der sich Naturgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie, Zoonomie, Physiologie nur wie vorbereitende Stufen verhalten. Eine jede von diesen genannten Wissenschaften behandelt ja nur eine Seite des Naturkörpers; aber alle zusammen, bloß als Summe gedacht, erschöpfen das Leben doch auch nicht. Denn dieses ist wesentlich mehr als die Summe seiner Einzelerscheinungen. Wer mit Hilfe der genannten Einzelwissenschaften alle Seiten des organischen Seins begriffen hat, dem fehlt noch immer die lebendige Einheit. Diese zu erfassen ist nach Goethes Ansicht die Aufgabe der _Morphologie im weiteren Sinne._ ([[GA 030]], [[Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs (1891)|1891]], [[Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs (1891)#^a73vzs|S. 274-276]])
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Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs (1891). (GA 030). Rudolf Steiner Verlag, 3. Aufl., Dornach 1989[ ](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga030.pdf#page=274&view=Fit).