[[LEBENDIGES DENKEN]] | [[GOETHES ERKENNTNISART]] | [[METAMORPHOSE]]
[[Erkenntnis des Organischen]] | [[Idee, lebendige]] | [[Verwandlung des Denkens]] | [[Übung]]
Denken Sie sich doch nur, daß als etwas vom allerersten in dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» klar angegeben ist, man solle zum Beispiel versuchen, das Leben einer Pflanze zu verfolgen: wie sie nach und nach wächst, wie sie nach und nach wiederum vergeht. Ja, wenn Sie das wirklich verfolgen, so müssen Sie ja in Gedanken dieses Leben der Pflanze durchmachen. Da haben Sie zuerst den Gedanken des ganz kleinen Samenkorns und wenn Sie den Gedanken nicht beweglich machen, so kommen Sie ja der Pflanze nicht nach in ihrem Wachsen. Sie müssen den Gedanken beweglich machen. Und dann wiederum, wenn Sie die Pflanze sich entblättern, allmählich absterbend, abwelkend denken, dann müssen Sie sich wiederum das Zusammenschrumpfen, das Zusammenrunzeln denken. Sobald Sie anfangen, das Lebendige zu denken, müssen Sie den Gedanken selber beweglich machen. Der Gedanke muß durch Ihre eigene Kraft anfangen, innere Beweglichkeit zu bekommen. Es gibt zwei schöne Gedichte von Goethe. Das eine heißt «Die Metamorphose der Pflanzen», das andere «Die Metamorphose der Tiere». Diese zwei Gedichte kann man lesen, man kann sie schön finden, aber man kann auch folgendes machen. Man kann versuchen, den Gedanken in diesen Gedichten wirklich so zu denken, wie ihn Goethe gedacht hat, von der ersten Zeile bis zur letzten und dann wird man finden: wenn man das durchmacht, kann sich der Gedanke innerlich bewegen vom Anfang bis zum Ende. Und wer den Gedanken dieser Gedichte nicht so verfolgt, hat die Metamorphose nicht verstanden. Wer aber den Gedanken so verfolgt und ihn dann hinuntersinken läßt ins Unbewußte, und sich wiederum, nachdem er das Öfters gemacht hat, erinnert gerade an diesen Gedanken der Metamorphose - denn es ist dies kein anderes Denken, als wie Sie es in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» verfolgen sollen -, wer also das ausfuhrt, wer diesen Gedanken hinuntersenkt und dann sich bemüht, dies fünfzig-, sechzig-, hundertmal zu machen, und hundertundeinmal wird es vielleicht brauchen, der wird ihn einmal heraufkriegen. Dann aber wird dieser Gedanke, den er so praktiziert hat, ein beweglicher sein. Man wird erleben, daß er nicht so heraufkommt, wie etwa eine kleine Maschine, sondern - verzeihen Sie nochmals das Beispiel - wie eine kleine Maus; man wird erleben, wie er selber ein innerlich bewegliches, lebendiges Element ist. ([[GA 164]], [18.09.1915, S. 38-39](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga164.pdf#page=39&view=Fit))