[[URPFLANZE]] | [[METAMORPHOSE]] | [[DESCARTES]] | [[SPINOZA]] [[Erkenntnissicherheit]] | [[Erleben der Idee]] | [[Wissenschaft & Erleben]] | [[Untertauchen in Naturwesen]] ##### Klarheit und Deutlichkeit des Erkennens bei Descartes und Goethe - Gegenüberstellung vs. inneres "Eintauchen" in die Dinge Und nun sehen wir, wie Goethe, alles zusammenfassend, was in seiner Seele ist, Klarheit und Deutlichkeit erweckend in anderer Weise als es bei Descartes vorhanden war, Klarheit und Deutlichkeit verbinden will mit unmittelbarem Erleben. Das ist das Charakteristische, was zu Goethes Zeit in das deutsche Weltbild eintritt. — Wie sehen wir das Streben nach Klarheit und Deutlichkeit bei Descartes? So, daß das, was man anschaut, worüber man denkt, sich klar und deutlich zeigen muß. Dem Zuschauer muß es sich in Klarheit und Deutlichkeit zeigen. **Goethe ist sich darüber klar, daß man dann überhaupt keine Erkenntnis gewinnt, wenn man nur die Dinge klar und deutlich vor sich hingestellt sieht; sondern er ist sich klar (...): Wenn man ein wirkliches, den Realitäten entsprechendes Weltbild gewinnen will, so muß man in die Dinge untertauchen**, muß das Formen des Kristalls miterleben, indem man sich in die Kräfte, die den Kristall bilden, gleichsam hineinversetzt; und ebenso muß man in die Pflanze hineingehen, muß die Kräfte miterleben, die die Pflanze zur Pflanze machen, muß in die Wesen alle untertauchen. **Nicht ein abstraktes Weltbild, das aus Monaden und Harmonien zusammengezimmert wird, will Goethe, sondern ein Weltbild, das erlebt wird**. Aber nicht (...) nur ahnend, sondern das in alle Dinge der Welt untertaucht, und wo durch dieses Untertauchen das Menschenwesen den Weg durchmacht, auf dem es sich immer mehr und mehr den innersten Quellen des Daseins annähert. Daher konnte auf Goethe jenes Weltbild wirken, das sich ihm in Spinozas Anschauung darstellte. Spinoza hat niemals den Impuls gehabt, in die wirkliche äußere Welt mit seiner Seele unterzutauchen. Wie die Eindrücke aus der Welt vor ihm aufstiegen, so suchte Spinoza Glied an Glied anzureihen; aber es sollte das so geschehen, daß die Seele etwas dabei durchmacht. Nicht daß Goethe jemals ein gläubiger Anhänger des Spinozistischen Weltbildes gewesen wäre; das können nur die sagen, die von Goethe doch eigentlich nichts wissen. Sondern so ist es, daß Goethe die Art, wie er sich in eine Weltanschauung hineinfinden will, bei Spinoza gefühlt hat, bei ihm gefunden hat. Der Unterschied ist nur der: **Was Spinoza auf abstraktem Wege erstrebte, das wollte Goethe auf konkrete Weise suchen. Wie Spinoza von Begriff zu Begriff geht, so wollte Goethe von Pflanze zu Pflanze gehen, um auf diese Weise das zu erleben, was die Pflanze erlebt. Wozu die Seele kommen konnte, indem sie sich so in die Pflanzenwelt hineinversenkte, das nannte Goethe die «Urpflanze»**; und was die Seele erlebte, indem sie in der gleichen Weise in die Tierwelt untertauchend sich hineinfühlte, das nannte er sein «Urtier». So wurde für Goethe das Streben nach Weltanschauung ein Miterleben, aber nicht ein dunkles wie bei Jakob Böhme; sondern das Erleben selber sollte in Klarheit und Deutlichkeit verlaufen. Davon zeugt die kleine Abhandlung über die «Metamorphose der Pflanzen» von Goethe, worin er darstellt, wie sich die Pflanze von der Wurzel zum Blatt und zur Blüte entwickelt, indem dabei fortwährende Umwandlungen vor sich gehen. Aber immer muß man verstehen, daß Goethe das, was er gewinnen wollte, dadurch zu erreichen suchte, daß er in das Wesen untertauchte. Während Cartesius in seinem Weltbilde alles Seelische aus dem Wesen, zum Beispiel aus den Tieren, herauswarf und sie zu lebendigen Automaten machte, **läßt Goethe seine eigene Seele hineinströmen in die Pflanzen, in die Tiere, in die ganze Welt, um sich in seiner Seele damit zu verbinden und sie klar zu erkennen**. Klarheit und Deutlichkeit im Erleben, das ist das, was zur Goethezeit in das Weltanschauungsstreben des deutschen Idealismus hineingekommen ist. — Was Cartesius zu einem äußeren Merkmal der Erkenntnis macht, die er vor sich hinstellt und sich als Zuschauer verhält, das verbindet Goethe mit dem inneren Erleben. ([[GA 064]], [22.04.1915, S. 421 ff.](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga064.pdf#page=421&view=Fit)) Vergleiche [[Empfangender Wille]]