[[GOETHES ERKENNTNISART]] | [[KANT]]
[[Anschauende Urteilskraft]] | [[Ding an sich]] | [[Untertauchen in Naturwesen]]
##### Kant: Erkenntnis der tieferen Quellen des Daseins unmöglich
Wir wissen, daß Kant ein Goethe nicht verwandtes Weltanschauungsstreben entwickelt hat. Ich habe auch darauf öfter aufmerksam gemacht. Hier kann es nicht begründet werden, ich will es nur anführen. Kant kam zu der Anschauung, daß der Mensch im Grunde genommen nicht hineinschauen kann in die tieferen Quellen des Natur- und Geistesdaseins. Und er sprach es aus, daß der Mensch, wenn er mit seinen Ideen sich wirklich in das Weben des Weltendaseins hineinleben wollte, ein ganz anderes Erkenntnisvermögen haben müßte, als ihm wirklich zugeteilt ist. Dann müßten in seine Erkenntnis nicht bloß Begriffe und Ideen, welche die Dinge abbilden, hereinfließen, sondern der lebendige Strom des Daseins selber. Man kann es ermessen, daß Goethe das empfunden hat, zum Beispiel an seiner Metamorphosen-Idee mit der Urpflanze, dem Urtier, was Kant aus dem menschlichen Erkenntnisvermögen ausschloß. Und Kant sagte: Derjenige, der sich dem Glauben anschließen wollte - ich führe ungenau an, aber es entspricht ungefähr dem Wortlaut -, daß er wirklich hineinschaut in die Quellen des Daseins, müßte sich zu einem Abenteuer der versteigen, zu einer Art anschauender Urteilskraft; er müßte nicht nur begreifen, er müßte innerlich erlebend anschauen und anschauend erleben den Strom des Weltendaseins selber.
##### Goethe: Erkenntnis, die in das Weltensein untertaucht. Für Goethe wurde das Erkenntnisproblem zu einem Lebensproblem
In dem schönen kleinen Aufsatz über «Anschauende Urteilskraft» ergeht sich Goethe über diese Kantische Idee, und sagt ausdrücklich: Wenn man sich mit Bezug auf die Ideen von Freiheit und Unsterblichkeit in eine höhere Region erheben kann, — warum soll man denn nicht auch mit demjenigen, was die menschliche Seele sonst in der Natur, in sich erleben kann, das Abenteuer der kühn und mutig bestehen?! — Was will denn eigentlich Goethe? Das heißt nichts anderes als: Goethe will eine solche Erkenntnis in sich rege machen, die in ihm möglich macht, mit dem, was er in der Seele hat, nun wirklich im lebendigen Weltendasein unterzutauchen, nicht bloß zu wissen das Weltendasein, sondern es mitzuerleben. Goethe strebte selber nach einer solchen Erkenntnis und nach einer solchen Stellung zu den Welterscheinungen, wie er sie dramatisch in seinem «Faust» verkörpert. Und Goethe hatte in sich die Überzeugung ausgebildet, daß der Mensch nicht nur ein Wissen erwerben kann, welches eine außer ihm befindliche Welt abbildet, sondern daß er in sich eine Vorstellungswelt rege machen kann, welche den Strom des Weltendaseins miterlebt; daß dies aber nur möglich ist, wenn man das unternimmt, was Kant noch als ein Abenteuer der bezeichnet: die tieferen Seelenkräfte heraufzuholen, die mehr erkennen können, als die bloßen Sinne und der auf die Sinne beschränkte Verstand. Und das ist das Großartige, daß Goethe dasjenige, was er als den Nerv seines eigenen Erkenntnisvermögens betrachtete, zugleich als einen Lebensimpuls auffaßte, daß er das Erkenntnisproblem nicht bloß philosophisch zu lösen sich gedrungen fühlte, sondern als lebendiger Mensch; daß für ihn die Frage, was man erkennen kann von der Welt und womit man wirken kann innerhalb der Welt der Taten, was man in seiner Seele als Erkenntnisinhalt und als Wirkungsimpuls für die Welt der Taten innehaben kann, ein Lebensproblem wird. Das ist das Große, das Bedeutsame, daß ihm davon Glück und Verderben des Menschen abhängt; daß ihm davon Befriedigung einer Sehnsucht abhängt, die den ganzen Menschen angeht. Dadurch aber hat das Erkenntnisproblem für Goethe ein künstlerisches, ein dramatisches, ein Lebensproblem im weitesten Umfang des Wortes werden können. ([[GA 065]], [03.02.1916, S. 266 ff.](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga065.pdf#page=266&view=Fit))