[[GOETHES ERKENNTNISART]]
[[Missbildungen]] | [[Naturgesetz]] | [[Wissenschaft]]
##### Die lebendige Natur schwankt zwischen dem Gesunden und Pathologischen
Es ist nun bei Goethe in vielen Fällen zu beobachten, daß eine scheinbar nebensächliche Bemerkung in seinen Schriften im eminentesten Sinne aufklärend wirkt für die ganze Art seines Arbeitens. Eine solche Bemerkung findet sich in dem «Anhang», den er 1817 dem Wiederabdruck seiner Schrift über die «Metamorphose der Pflanzen» hinzugefügt hat. Er betrachtet da gewisse pathologische Erscheinungen im Pflanzenreiche und spricht sich über dieselben in folgender Weise aus:
«Die Natur bildet normal, wenn sie unzähligen Einzelheiten die Regel gibt, sie bestimmt und bedingt; abnorm aber sind die Erscheinungen, wenn die Einzelheiten obsiegen und auf eine willkürliche, ja zufällig scheinende Weise sich hervortun. Weil aber beides nah zusammen verwandt und sowohl das Geregelte als Regellose von einem Geiste belebt ist, so entsteht ein Schwanken zwischen Normalem und Abnormem, weil immer Bildung und Umbildung wechselt, so daß das Abnorme normal und das Normale abnorm zu werden scheint. Die Gestalt eines Pflanzenteiles kann aufgehoben oder ausgelöscht sein, ohne daß wir es Mißbildung nennen möchten... Im Pflanzenreiche nennt man zwar das Normale in seiner Vollständigkeit mit Recht ein Gesundes, ein physiologisch Reines; aber das Abnorme ist nicht gleich als krank oder pathologisch zu betrachten.»
Eine solche Bemerkung zeigt, wie Goethe über das Pathologische dachte. Er wußte, welchen Wert die Betrachtung des Krankhaften für den hat, der sich eine Ansicht über die Gesetze des Gesunden bilden will. Man geht gewiß nicht fehl, wenn man einen solchen Gedanken Goethes in Verbindung bringt mit den Beziehungen, in denen der Dichter zur Medizin stand. Denn durch diese Beziehungen wurden seine naturwissenschaftlichen Vorstellungen in weitgehendem Maße beeinflußt. Man braucht nur seine eigenen Mitteilungen in «Dichtung und Wahrheit» zu verfolgen, um einen Einblick zu gewinnen in die bedeutsamen Anregungen, die Goethe der Medizin verdankt. Mehr als zu den Vertretern anderer Fächer fühlte er sich an den beiden Hochschulen, die er besuchte, zu denen der medizinischen Wissenschaften hingezogen. ([[GA 030]], S. 582–583)
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Goethe und die Medizin (1901). (GA 030). Rudolf Steiner Verlag, 3. Aufl., Dornach 1989[ ](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga030.pdf#page=582&view=Fit).