[[FARBENLEHRE]] | [[PHÄNOMENOLOGIE]] [[Abstraktion]] ##### Physiologische Betrachtung In Goethes Sinn handelt es sich bei der Farbenlehre durchaus darum, die Betrachtung der Farben im Zusammenhang mit demjenigen anzustellen, was im menschlichen Organismus selber vorgeht. Sie brauchen ja nur die Goethesche Farbenlehre aufzuschlagen, und Sie werden sehen, daß Goethe zunächst ausgeht von den physiologischen Farben, von dem Verhalten des Auges, das er aber im Grunde genommen anders betrachtet, mit einer anderen Einstellung betrachtet, möchte man sagen, als man es heute tut. Heute betrachtet man das Auge eigentlich so, daß man es sich herausgenommen denkt aus dem ganzen menschlichen Organismus, daß man es gewissermaßen aussondert von diesem Organismus, daß man es als einen optischen Apparat betrachtet (...) ##### Erfahrung des Auges im Zusammenhang mit lebendigem Organismus Es ist vielleicht für denjenigen, der ganz eingeschult ist in die heutige wissenschaftliche Betrachtung, schwer zu fassen, welches nun der Unterschied ist dieser Anschauungsweise, die ich eben in etwas radikaler Art charakterisiert habe, zu der Goetheschen, und wie sich zu dieser Anschauungsweise verhält die physiologisch-subjektive Weise, wie Goethe seine Experimente macht. Er experimentiert durchaus so, daß er das Auge darinnenstehen läßt im lebendigen Prozeß des Organismus; er läßt das Auge so, daß es bei seinem Experimentieren gewissermaßen einen Grad von am menschlichen Organismus befindlichen bewußten Organs hat. Also das am Menschen erlebte Auge, das mit dem Menschen lebendig im Zusammenhang gefühlte Auge, das betrachtete Goethe als den Ausgangspunkt für seine physiologisch-subjektiven Farbenuntersuchungen. ##### Goethe beschreibt das Bewusstseinsphänomen Das Auge, das Goethe den Erscheinungen exponiert bei seinen Experimenten, das kann man im Grunde nicht auf die Tafel zeichnen. Und dasjenige, was Goethe dann als Erscheinungen im Licht- und Farbengebiet beschreibt, das kann man im Grunde genommen auch nicht auf die Tafel zeichnen. Daher ist Goethe abgeneigt jenen Abstraktionen, welche der heutige Physiker ja sofort auf die Tafel zeichnet, wenn er irgend etwas auf dem Gebiet der Farben oder der Optik überhaupt meint. Goethe ist abgeneigt, dieses ganze abstrakte Liniensystem aufzuzeichnen. Er beschreibt das, was gewissermaßen im Bewußtwerden irgendeines optischen Vorganges lebt. ##### Leben im Sehprozess wird nicht "ausgetilgt" Erst dann, wenn Goethe übergeht von den subjektiven Farben zu den objektiven Farben, wenn er also die äußeren physischen Farbengebilde untersucht, erst dann beginnt er eigentlich in dem Sinne zu zeichnen, wie es der heutige Physiker liebt. Der ganze Sehprozeß beim heutigen Physiker ist - wenigstens im Gedanken - ausgegliedert aus der menschlichen Natur, er wird ins Unorganische übersetzt, in mathematischen Linien dargestellt. Bei Goethe wird das Leben nicht ausgetilgt aus dem Sehprozeß, sondern es wird dasjenige, was im modifizierten Sehprozeß sich ergibt, bloß beschrieben; es wird höchstens dadurch versinnlicht, daß man die Erscheinungen, ich möchte sagen mit einer inneren, sinnreichen Symbolik fixiert. ([[GA 073a]], [12.01.1921, S. 284](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga073a.pdf#page=284&view=Fit))