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[Schriften der Goethe-Gesellschaft, 7. Bd., 1892]
Als Knebel anfangs 1783 im 32. Stück des Tiefurter Journales das Fragment «Die Natur» gelesen hatte, schrieb er in sein Tagebuch: «Goethes Fragment über die Natur hatte tiefen Eindruck auf mich. Es ist meisterhaft und groß. Es bestärkt mich in Liebe.» Der Aufsatz erschien wie die andern Beiträge des Journales ohne Namen des Verfassers. Die Ideen, die darin niedergelegt sind, vermochte Knebel nur Goethe zuzuschreiben. In gleicher Weise werden wohl auch andere Leser des Journals gedacht haben. Goethe selbst trat dieser Meinung entgegen. Er schrieb an Knebel: «Der Aufsatz im Tiefurter Journal, dessen Du erwähnst, ist nicht von mir, und ich habe bisher ein Geheimnis daraus gemacht, von wem er sei. Ich kann nicht leugnen, daß der Verfasser mit mir umgegangen und mit mir über diese Gegenstände oft gesprochen hat... Er hat mir selbst viel Vergnügen gemacht und hat eine gewisse Leichtigkeit und Weichheit, die ich ihm vielleicht nicht hätte geben können.» Und Frau von Stein schreibt am 28. März 1783 an Knebel:
«Goethe ist nicht der Verfasser, wie Sie es glauben, von dem tausendfältigen Ansichtenbilde der Natur; es ist von Tobler; mitunter ist mir's nicht wohltätig, aber es ist reich!» Wären diese Briefstellen nicht vorhanden, so erschiene heute ein Aufwerfen der Fragen: «Ist Goethe der Verfasser dieses Aufsatzes?» oder «Inwieferne gehören die in demselben ausgesprochenen Gedanken ihm an?» geradezu unmöglich. Wenn wir in wenigen Worten sagen sollen, was bisher wohl jedem Kenner von Goethes wissenschaftlicher Entwickelung die Überzeugung von Goethes Autorschaft aufgedrängt hat, so ist es der Umstand, daß der letztere im Fortschreiten zu seinen späteren Naturanschauungen einmal notwendig durch die Stufe durchgegangen sein muß, die in dem Aufsatze festgehalten ist. Als Ernst Haeckel zum Beleg dafür, daß Goethe einer der ersten Propheten einer einheitlichen (monistischen) Naturauffassung war, eine besonders charakteristische Arbeit desselben an die Spitze seiner «natürlichen Schöpfungsgeschichte» stellen wollte, da wählte er den Aufsatz «Die Natur». Hiermit ist aber gar nichts anderes ausgesprochen, als was Goethe selbst in hohem Alter, als ihm der aus seinem Gedächtnisse längst entschwundene Aufsatz vorgelegt wurde, für das Richtige gehalten hat. Im Jahre 1828 erhielt er denselben aus dem Nachlaß der Herzogin Anna Amalia. Er nahm keinen Anstand, die darin ausgesprochenen Ideen als die seinigen zu bezeichnen, obwohl er sich tatsächlich an die Abfassung nicht erinnern konnte. In einer erläuternden Bemerkung zu dem Fragment, die er 1828 niederschreibt, lesen wir: «Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet.» Und weiter oben: «Er ist von einer wohlbekannten Hand geschrieben, deren ich mich in den achtziger Jahren in meinen Geschäften zu bedienen pflegte.» Diese Hand ist die Seidels, von der auch die andern Goetheschen Beiträge zum Tlefurter Journal geschrieben sind. Zu diesen historischen Zeugnissen gehört auch ein Blatt, das im Goethe-Archiv unter den naturwissenschaftlichen Manuskripten Goethes liegt und das wohl eine Aufzeichnung des Kanzlers von Müller ist. (Oben am Rande steht von Eckermanns Hand mit Bleistift: Betrifft wahrscheinlich den Aufsatz: Die Natur, in G. Werken 1890, Bd. 40, S. 385.) Wir heben aus derselben folgende Stellen heraus: d. 25. Mai 1828. «Vorstehender Aufsatz, ohne Zweifel von Goethe, wahrscheinlich für das Tiefurter Journal bestimmt, von Einsiedeln dazu mit Nr. 3 bezeichnet und also etwa aus den ersten achtziger Jahren, jedoch vor der Metamorphose der Pflanzen geschrieben, wie Goethe selbst mir die Vermutung äußerte, war mir am 24. Mai 1828 von ihm kommuniziert. Da er ihn drucken lassen wird, so habe ich kein Bedenken gefunden, ihn vorläufig abzuschreiben.» .. . d. 30. Mai 1828. «Nach einem Gespräch bekennt sich Goethe nicht mit voller Überzeugung ganz dazu; und auch mir hat geschienen, daß es zwar seine Gedanken, aber nicht von ihm selbst, sondern per traducem niedergeschrieben. Die Handschrift ist Seidels, des nachherigen Rentbeamten, und da dieser in Goethes Vorstellungen eingeweiht war und eine Tendenz zu solchen Gedanken hatte, so ist es wahrscheinlich, daß jene Gedanken als aus Goethes Munde kollektiv von ihm niedergeschrieben.» Die Ansicht, daß Seidel wirklichen Anteil an der Autorschaft habe, wird wohl niemand festhalten können; dagegen spricht die ganz einzigartige Harmonie zwischen den Gedanken des Aufsatzes und der Form, in der sie ausgesprochen sind. Das sind keine umgeformten Gedanken, es sind solche, die ganz wie sie sind konzipiert sein müssen. Man kann sich bei fast keinem Satze denken, daß der Inhalt genauer oder schöner formuliert werden könne. Wenn der Aufsatz nicht ein Diktat Goethes, sondern nach einer mündlichen Mitteilung von einem andern abgefaßt ist, dann könnte das nur von jemandem geschehen sein, der auf solcher Bildungshöhe stand, daß er Goethe nach allen Seiten erfassen und seine Gedanken in ihrer künstlerisch vollendeten Gestalt fast wörtlich aus dem Gedächtnisse niederschreiben konnte. Nun scheint der von Frau von Stein genannte G. Chr. Tobler in der Tat ein solcher Mann gewesen zu sein, Frau Herder schrieb über ihn an Müller: «Er wurde in diesem Zirkel (Goethes und der fürstlichen Personen) sehr geehrt, geliebt und als der philosophischste, gelehrteste, geliebteste Mensch erhoben; kurz, sie sprachen von ihm als von einem Menschen höherer Art.» Und J. G. Müller schrieb in sein Tagebuch, als er im April 1781 Tobler mit Passavant in Münden kennengelernt hatte: «Tobler ist ganz und gar griechischen Geblütes, sein einziges Bestreben ist, immer menschlicher zu werden, voll Gesundheit und Manneskraft wie ein junger Baum; wen er liebt, den liebt er ganz. An den simplen Lichtsätzen des Christentums hat er nicht genug. Er ist bald Christ, bald Grieche...» Tobler brachte nur den Sommer 1781 in Weimar zu. Er wohnte bei Knebel, und Goethe verkehrte viel mit ihm. In einem Briefe Goethes an Lavater vom 22. Juni 1781 sagt der erstere, daß er Tobler sehr «lieb gewonnen», und das Tagebuch enthält unter dem 2. August die Bemerkung: «Mit Toblern über Historie bei Gelegenheit Borromäus.» Das sind Beweise dafür, daß intime Gespräche über allgemeine Anschauungen zwischen Goethe und Tobler stattgefunden haben können, und daß der letztere eine Ausführung Goethes, das sich mit dem Fragment «Natur» deckt, zu Papier gebracht haben kann. ^e4kpw8
Daß aber Tobler keine andere Rolle dabei spielen konnte als die eines Berichterstatters, der sich möglichst genau an den Wortlaut des Gehörten hielt, dafür sprechen gewichtige innere Gründe, die aus der Betrachtung des Verhältnisses des fraglichen Aufsatzes zu Goethes späteren Arbeiten über Naturwissenschaft hervorgehen. Er selbst sagt in der bereits oben zitierten erläuternden Bemerkung: «Ich möchte die Stufe damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch nicht erreichten Superlativ zu äußern gedrängt ist. Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht isc} und mag als Spiel, dem es bitterer Ernst ist, gar wohl gelten.
Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr hingegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig.»
Goethes wissenschaftliche Entwickelung stellt sich der genaueren Betrachtung als ein fortschreitendes Ausgestalten der im Aufsatz «Die Natur» ausgesprochenen Maximen dar. In diesen Sätzen sind die allgemeinen Forderungen aufgestellt, nach denen das Denken bei der Erforschung besonderer Naturgebiete zu verfahren hat. Diesen Prinzipien entspricht alles Naturgeschehen. Wie das im einzelnen vor sich geht, sucht Goethe dann später auf verschiedenen Gebieten zu ergründen. Der in Rede stehende Aufsatz ist eine Art Lebensprogramm, das allem Goetheschen Denken über die Natur zugrunde liegt.
Wo immer wir mit der Betrachtung von Goethes Forschungen einsetzen, bestätigt sich uns dieses. In der Geologie stellt Goethe unabhängig von anderen Forschern den Grundsatz fest, daß dieselben Gesetze, die gegenwärtig die auf der Erdoberfläche vor sich gehenden Bildungen bedingen, auch in den verflossenen Epochen gültig waren und daß dieselben niemals eine gewaltsame Unterbrechung durch ausnahmsweise Umwälzungen und so weiter erlitten haben. Dieses Prinzip weist zurück auf die Stelle in dem Fragment: «Sie (die Natur) schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder — alles ist neu und doch immer das Alte.» «Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.»
Fast wie die Pflanze aus dem Samen hat sich die Metamorphosenlehre aus folgenden Sätzen des Fragmentes entwickelt: «Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr.» «Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen.» «Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.» In dem ersten Satze ist schon ganz deutlich der Ansatz zu dem Gedanken von der Umwandlung der einzelnen Organe eines Lebewesens und der fortschreitenden Entwickelung derselben gemacht. Man braucht, um einen Beweis zu haben, nur folgende Stelle der «Metamorphose» (1790) damit zu vergleichen: «Betrachten wir alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgends ein Bestehendes, nirgends ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in steter Bewegung schwanke,» Der angeführte Satz über die «Individualität» ist der Keim zur Idee des Typus, die uns in Goethes osteologischen Arbeiten entgegentritt. In den «Vorträgen über den Typus» (1796) sagt Goethe: «Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommenem organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letztern den Menschen sehen, alle nach Einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.» Das heißt aber nichts anderes als: die Natur schafft zwar Individuen, aber aller Individualität liegt der Typus zugrunde; auf diesen kommt es zuletzt doch an und nicht auf die Individuen. Ja, auch die Art, wie die Natur verfährt, um aus der allgemeinen Form des Typus heraus eine besondere Gestalt zu schaffen, finden wir in dem Fragment angedeutet. Diese Art besteht darinnen, daß ein Organ oder eine Organgruppe besonders stark entwickelt ist, und dagegen die anderen Teile des Typus zurückstehen müssen, weil die Natur nur einen gewissen Etat für jedes Lebewesen hat, den sie nicht überschreiten darf. Je nachdem dann die eine oder andere Partie des Typus entwickelt ist, entsteht die eine oder die andere Form der Lebewesen. In dem Aufsatz über den Streit zwischen Geoffroy de Saint Hilaire und Cuvier in der französischen Akademie faßt Goethe diese Regel in die Worte zusammen: «...daß die haushälterische Natur sich einen Etat, ein Budget vorgeschrieben, in dessen einzelnen Kapiteln sie sich die vollkommenste Willkür vorbehält, in der Hauptsumme jedoch sich völlig treu bleibt, indem, wenn an der einen Seite zu viel ausgegeben worden, sie es der andern abzieht und auf die entschiedenste Weise sich ins Gleiche stellt.» Ganz der gleiche Begriff ist im Fragment enthalten: «Gibt sie (die Natur) eins (ein Bedürfnis) mehr, so ist's ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.» Zwei parallele Gedankenreihen sind auch die folgenden. Fragment: «Sie (die Natur) ist die einzige Künstlerin; aus dem simpelsten Stoff zu den größten Kontrasten»; und in den osteologischen Vorträgen: «Betrachten wir nach jenem erst im allgemeinsten aufgestellten Typus die verschiedenen Teile der vollkommensten Tiere, die wir Säugetiere nennen, so finden wir, daß der Bildungskreis der Natur zwar eingeschränkt ist, dabei jedoch wegen der Menge der Teile und wegen der vielfachen Modifikabilität die Veränderungen der Gestalt ins Unendliche möglich werden.» Selbst der Kernpunkt der Metamorphosenlehre, daß der unendlichen Mannigfaltigkeit der organischen Wesen ein einziger Urorganismus zugrunde liegt, findet sich in der im «Fragment» angedeuteten Idee: «Jedes ihrer (der Natur) Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles Eins aus.»
Nicht minder bemerkenswert ist der Umstand, daß der Gesichtspunkt, von dem aus Goethe später die Mißbildungen an Organismen ansah, bereits in unserem Aufsatze eingenommen ist. Die Abweichung von der gewöhnlichen Gestalt eines Naturwesens ist nach dieser Annahme nicht eine Abweichung von den allgemeinen Naturgesetzen, sondern nur eine Wirkungsweise derselben unter besonderen Bedingungen. «Die Natur bildet normal, wenn sie unzähligen Einzelheiten die Regel gibt, sie bestimmt und bedingt; abnorm aber sind die Erscheinungen, wenn die Einzelheiten obsiegen und auf eine willkürliche, ja zufällig erscheinende Weise sich hervortun. Weil aber beides nah zusammen verwandt und sowohl das Geregelte als Regellose von Einem Geiste belebt ist, so entsteht ein Schwanken zwischen Normalem und Abnormem, weil immer Bildung und Umbildung wechselt, so daß das Abnorme normal und das Normale abnorm zu werden scheint.» Das ist in reiferer Form (der Aufsatz, dem der Satz angehört, ist im Hinblick auf Jägers Werk «Über die Mißbildung der Gewächse», das 1814 erschien, niedergeschrieben) der Gedanke aus dem Fragment: «Auch das Unnatürlichste ist Natur.»
Wenn wir absehen von den speziell auf das Reich der unorganischen Natur bezüglichen Prinzipien Goethes, so finden wir dessen ganzes Gedankengebäude in dem Fragment «Natur» bereits vorgebildet. In der allgemeinen, abstrakten Weise, wie diese Ideen hier stehen, erscheinen sie wie die Verkündigung einer neuen Weltanschauung. Man vermag sie nur einem Geiste zuzuschreiben, der eigene, neue Wege zur Erklärung der Erscheinungen einschlagen wollte. Die Erfüllung dieser Verkündigung sind Goethes spezielle Arbeiten über naturwissenschaftliche Gegenstände. Hier erst erhalten jene allgemeinen Sätze ihren vollen Wert, ihre eigentliche Bedeutung. Wir verstehen sie sogar erst ganz, wenn wir sie in Goethes Metamorphosenlehre, in seinen osteologischen Studien und in seinen geologischen Betrachtungen verwirklicht sehen. Hätten wir diese letzteren ohne die allgemeinen theoretischen Grundsätze, so müßten wir sie selbst durch sie ergänzen. Wir müßten uns fragen: wie stellte Goethe die Natur im ganzen vor, um sich über die Pflanzen- und Tierwelt die ihm eigenen Vorstellungen bilden zu können? Die Beantwortung dieser Frage kann aber mit nichts besser und befriedigender gegeben werden als mit dem Inhalte des Fragmentes «Die Natur». Goethe sagt in der «Geschichte der Farbenlehre»: «Wie irgend jemand über einen gewissen Fall denke, wird man nur erst recht einsehen, wenn man weiß, wie er überhaupt gesinnt ist.» Wir wissen erst vollständig, wie Goethe über einen einzelnen Fall in der Natur gedacht, wenn wir aus dem besprochenen Fragment erfahren haben, was für Anschauungen er über die Natur überhaupt gehabt hat.
Diese Beziehung erscheint doch wichtiger als die Frage, ob derjenige, welcher die Niederschrift des Aufsatzes besorgt hat, ein unmittelbares Diktat oder einen mehr oder weniger wörtlichen Bericht aus dem Gedächtnisse geliefert hat.