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[Goethe-Jahrbuch 1895, 16. Bd.]
Nach einem Aktenstück seines Archivs
Seit 1822 halten die deutschen Naturforscher und Ärzte alljährlich eine Versammlung ab, an der die Fachgenossen des In– und Auslandes teilnehmen. Die Anregung zu dieser Institution ging von Oken aus. Der Zweck der Versammlungen ist: Austausch von Meinungen, persönliches Bekanntwerden der Naturforscher miteinander und Kenntnisnahme der Versammelten von den Sammlungen und wissenschaftlichen Anstalten des Versammlungsortes, zu dem jedes Jahr eine andere größere deutsche oder österreichische Stadt auserwählt wird. Goethe mußte diese Einrichtung mit Freuden begrüßen. Seine Teilnahme war eine besonders rege an den Versammlungen in München 1827 und in Berlin 1828. Im ersten Jahre hat Goethes Interesse noch besondere Erhöhung erfahren durch den Aufenthalt Zelters in München, der mit dem der Naturforscher zusammenfiel. (Vgl. Goethes Briefwechsel mit Zelter, IV, S. 381 ff.) Die Bedeutung der Zusammenkünfte der Forscher trat Goethe besonders lebhaft vor Augen, als er am 30. Oktober 1827 von seinem Freunde Kaspar Sternberg eine Beschreibung der Münchener Veranstaltungen erhielt. «Den Beschluß des heutigen Reisezyklus» – schreibt Sternberg – «machte die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München; ein bewährter Freund, welchen der König nach seinem Porträt, das er in Weimar gesehen, sogleich erkannte, wird bei seiner Rückreise über diesen Verein Nachricht erteilt haben.» Mit dein bewährten Freund» ist eben Zelter gemeint. Die Ausführungen des Briefes machten auf Goethe einen solchen Eindruck, daß er eine Stelle daraus entnahm, überarbeitete, mit einigen Sätzen einleitete und auf diese Weise folgenden kleinen Aufsatz über die Bedeutung der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte verfertigte:
«Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die verschiedenen Nationen voneinander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. Dieses wird aber mehr durch Reisende als durch Korrespondenz bewirkt, indem ja persönlicher Gegenwart ganz allein gelingt, das wahre Verhältnis unter Menschen zu bestimmen und zu befestigen.
Schaue man also nicht zu weit umher, sondern erfreue sich zuerst, wenn im Vaterland sich Gesellschaften, und zwar wandernde, von Ort zu Ort sich bewegende Gesellschaften hervortun; weshalb denn uns die Nachricht eines würdigen Freundes von dem letzten in München versammelten Verein der Naturforscher höchst erwünscht gewesen, welche folgendermaßen lautet:
<Am erfreulichsten erscheint bei dieser Anstalt: sie ersetzt uns Deutschen den Mangel einer Hauptstadt, in welcher von Zeit zu Zeit die Naturforscher zusammentreffen könnten, um sich über alles, was dem Fortschreiten der Wissenschaften frommt oder als Hindernis im Wege steht, zu besprechen. Ja, es gewähren diese gesellschaftlichen Wanderungen aus einem deutschen Hauptort in den andern noch den größeren Vorteil, daß man in den Sammlungen eines jeden Neues vorfindet und durch Vergleichung des schon Gesehenen von der Richtigkeit der gefaßten wissenschaftlichen Bestimmung überzeugt wird. Größer ist vielleicht noch der Vorteil, daß Menschen, die sonst unerkannt oder wohl gar verkannt durch ihr ganzes Leben nebeneinander einhergegangen wären, sich nun als Wissenschaftsverwandte aufsuchen und ein Verhältnis zueinander gewinnen, statt einander zu bekritteln und schmählustig zu rezensieren. Das Wichtigste endlich ist wohl dies, daß die Staatsmänner, welche durch andre oder persönlich an diesen Versammlungen teilnehmen, zu der Überzeugung gelangen, daß es mit dem redlichen Forschen auch wirklich ehrlich gemeint sei. Die im künftigen Jahre zu Berlin abzuhaltende Versammlung wird wahrscheinlich die Brücke bilden, um aus nördlichen und östlichen Staaten verwandte Naturforscher heranzuziehen. So hätte dann das Wandern abermals einen schönen, heilsamen Zweck erreicht. Der Himmel gönne dem wissenschaftlichen Streben in unserm deutschen Vaterland noch lange Friede und Ruhe, so wird sich eine Tätigkeit entfalten, wie sie die Welt nur in einem Jahrhundert nach Erfindung des Druckes bei weit geringeren Hilfsmitteln erlebt hat.>»
Die Stelle: «Am erfreulichsten erscheint – Hilfsmitteln erlebt hat» ist mit Ausnahme einiger Goethescher Abänderungen gleichlautend mit einem Teile des Sternbergschen Briefes (Vgl. Briefwechsel zwischen Goethe und Sternberg, S. 178 f.). In seinem Antwortbriefe vom 27. November 1827 an Sternberg schreibt Goethe: «Wenn ich schon von manchen Seiten her verschiedentliche Kenntnisse erlangte von dem, was in München vorgefallen, so betraf doch solches mehr das Äußere, welches denn ganz stattlich und ehrenvoll anzusehen war, als das Innere, die Mitteilungen nämlich selbst ... Um so erwünschter eben ist es mir, aus zuversichtlicher Quelle zu vernehmen: daß wenigstens der Hauptzweck des näheren Bekanntwerdens und zu hoffenden wahrhaften Vereinigens unserer Naturforscher nicht verrückt worden. Schon daß man sich über den Ort vereinigt, wo man das nächste Jahr zusammenzukommen gedenkt, gibt die besten Hoffnungen, und gewiß ist die Versammlung in Berlin unter den Auspizien des allgemein anerkannten Alexander von Humboldt geeignet, uns die besten Hoffnungen einzuflö- ßen» (Briefwechsel mit Sternberg, S. 180 f.). Diese Versammlung in Berlin brachte zwei für Goethe wichtige Tatsachen. Von zwei bedeutenden Naturforschern wurden in öffentlichen Reden Goethes Verdienste um die Naturwissenschaft in warmen Worten anerkannt. Alexander von Humboldt hielt die Eröffnungsrede. Er gedachte auch der abwesenden Naturforscher und darunter Goethes mit den Worten: «Wenn ich aber, im Angesichte dieser Versammlung, den Ausdruck meiner persönlichen Gefühle zurückhalten muß, so sei es mir wenigstens gestattet, die Patriarchen vaterländischen Ruhmes zu nennen, welche die Sorge für ihr der Nation teures Leben von uns entfernt hält: Goethe, den die großen Schöpfungen dichterischer Phantasie nicht abgehalten haben, den Forscherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen, und der jetzt in ländlicher Abgeschiedenheit um seinen fürstlichen Freund wie Deutschland um eine seiner herrlichsten Zierden trauert» (Isis, Bd.XXII, S.254). Und Martius, der Münchener Botaniker, sagte an einer Stelle seines Vortrages «Über die Architektonik der Blumen» im Hinblick auf Goethes «Metamorphose der Pflanzen»: «Vor allem bemerke ich, daß die Grundansicht, welche ich hier vorzulegen mir die Ehre gebe, nicht etwa bloß das Resultat meiner Forschungen ist, sondern daß sie teilweise wenigstens von vielen bereits angenommen worden und überhaupt das Resultat jener morphologischen Ansicht von der Blume ist, die wir unserem großen Dichter Goethe danken. Alles ruht nämlich auf der Annahme, daß in der Blume nur Blätter seien (daß Kelch, Staubfäden, Krone, Pistill nur Modifikationen der pflanzlichen Einheit darstellen) oder daß das Blatt diejenige Einheit sei, mit der wir rechnen können» (Isis, Bd. XXII, S. 3 34). Goethe schenkte denn auch den Vorgängen in Berlin eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Ein im Goethe–Archiv noch vorhandenes Heft ist ein Beweis davon. Wir finden in demselben einen Teil der auf die Versammlung bezüglichen gedruckten Aktenstücke zusammengeheftet. Es sind folgende: «Übersichtskarte der Länder und Städte», welche Abgeordnete zu der Versammlung gesendet haben; eine «Benachrichtigung an die Mitglieder» über die einzelnen Veranstaltungen bei der Versammlung * ; das «gedruckte Verzeichnis der Teilnehmer mit deren Wohnungsnachweis»; das Programm der Eröffnungsfeier im Konzertsaale, die Zelter leitete und bei der Kompositionen von Mendelssohn, Zelter, Flemming, Rungenhagen und Wollank zum Vortrag kamen; die Eröffnungsrede von Humboldts mit dessen eigenhändiger Widmung an Goethe: «Herrn Geh. Rat von Goethe unter innigster dankbarster Verehrung A. v. Humboldt»; der Vortrag «über den Charakter der Vegetation auf den Inseln des Indischen Archipels» von C. G. C. Reinwardt, dem Leydener Botaniker, ebenfalls mit dessen eigenhändiger Widmung: «Sr. Excellenz dem Minister v. Goethe aus innigster Verehrung vom Verfasser»; ein «Verzeichnis eines Systems von Versuchen über die Bestäubung der Pflanzen, angestellt in den Jahren 1821–1828 von Dr. A. W. Henschel», das der Versammlung vorgelegt worden war; endlich eine Zuschrift «an die Herren Naturforscher und Ärzte» von der «Berliner Medaillen–Münze», die Herstellung von Denkmünzen mit den Bildnissen berühmter Naturforscher betreffend. Im Anschlusse hieran befindet sich noch in dem Hefte der erwähnte kleine Aufsatz Goethes in Johns Handschrift mit Korrekturen zum Teil von Goethes eigener, zum Teil von Riemers Hand. Er liegt in einem besonderen Umschlage, der (von Eckermanns Hand) die Aufschrift trägt: «Naturforscher in Berlin». Als letztes Stück des Heftes ist eine Nummer: «Notizen aus dem Gebiete der Natur– und Heilkunde» vom Oktober 1829 zu verzeichnen, mit Nachrichten über die Heidelberger Naturforscherversammlung vom Jahre 1829, als Beweis, daß Goethes Interesse für diese Zusammenkünfte auch in der Folgezeit ein reges war. Der Umschlag des Heftes trägt (von Johns Hand) die Worte: «Acta die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin 1828» und in der linken Ecke (von Kräuters Hand): «Auswärtige Angelegenheiten». Erwähnenswert erscheint noch die Mitteilung in dem Programm der Eröffnungsfeier, daß an den oberen Seiten des Saales, in dem dieses Fest stattfand, zu lesen ist:
«Es entbrennen im feurigen Kampf die eifernden Kräfte, Großes wirket ihr Streit, Größeres wirket ihr Bund» Schiller und
«Es soll sich regen, schaffend handeln, Erst sich gestalten, dann verwandeln, Nur scheinbar steht's Momente still. Das Ew'ge regt sich fort in allen: Denn Alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es im Seyn beharren will.» Goethe
* Einer praktischen Maßregel der Veranstalter sei hier gedacht. Es steht in der «Benachrichtigung an die Mitglieder»: «Damit von den kostbaren Stunden des Beisammenseins keine der Erfüllung polizeilicher Vorschriften geopfert zu werden brauche, hat die wohlwollende Behörde angeordnet, daß für diesen Fall ausnahmsweise die Meldung durch die Geschäftsführer genüge. Jedes der Mitglieder ist daher von der Gestellung auf dem Fremden–Bureau und der Lösung einer Aufenthaltskarte befreit.»
Das hier Mitgeteilte ist ein Beleg dafür, daß die Naturforscherversammlung vom Jahre 1828 Goethe einen erfreulichen Einblick gewähren konnte, wie sehr auch seine naturwissenschaftlichen Bestrebungen auf das deutsche Geistesleben gewirkt hatten.