##### Bezeichnung
"Ätherleib" ist ein anthroposophischer Fachausdruck für die komplexe und weisheitsvolle Organisation der Lebenskräfte eines lebendigen Organismus. Alternativ verwendete Steiner die Ausdrücke "Lebensleib", "Bildekräfteleib", "Zeitleib", oder auch "Zeitorganismus". Der Ausdruck "Leib" suggeriert eine räumliche Gestaltung, doch handelt es sich beim Ätherleib nicht nur um eine räumliche, sondern vor allem um eine dynamische, prozessuale "Zeitgestalt". Der Ätherleib ist eine "Kraftplastik" des Organischen ([[Goethes plastischer Sinn & Kraftplastik der Pflanze|Zitat]]).
##### Kurze Charakteristik
>Diesen Äther- oder Lebensleib hat der Mensch mit Pflanzen und Tieren gemeinsam. Er bewirkt, daß die Stoffe und Kräfte des physischen Leibes sich zu den Erscheinungen des Wachstums, der Fortpflanzung, der inneren Bewegung der Säfte usw. gestalten. Er ist also der Erbauer und Bildner des physischen Leibes, dessen Bewohner und Architekt. Man kann daher auch den physischen Leib ein Abbild oder einen Ausdruck dieses Lebensleibes nennen. (...) **Der Ätherleib ist eine Kraftgestalt; er besteht aus wirkenden Kräften**, nicht aber aus Stoff. ([[GA 034]], [01.05.1907](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga034.pdf#page=309&view=Fit), [S. 315 f.](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga034.pdf#page=315&view=Fit))
##### Ätherleib durch Beobachtung, nicht durch Schlussfolgerung erschlossen
>Es ist vor einiger Zeit als ein im höchsten Sinne unwissenschaftliches Beginnen aufgefaßt worden, von einem solchen «Ätherleib» zu sprechen. Am Ende des achtzehnten und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war es allerdings nicht «unwissenschaftlich». Da sagte man sich, die Stoffe und Kräfte, die in einem Mineral wirken, können aus sich selbst heraus nicht sich zum Lebewesen gestalten. Diesem muß noch eine besondere «Kraft» innewohnen, die man als «Lebenskraft» bezeichnete. Man stellte sich etwa vor, daß in einer Pflanze, in dem Tier, im Menschenleibe eine solche Kraft wirke und die Lebenserscheinungen hervorbringe, wie die magnetische Kraft in dem Magneten die Anziehung bewirkt. In der nachfolgenden Zeit des Materialismus ist eine solche Vorstellung beseitigt worden. Man sagte da, ein lebendiges Wesen baue sich in derselben Art auf wie ein sogenanntes lebloses; es herrschen im Organismus keine anderen Kräfte als im Mineral; sie wirken nur komplizierter; sie bauen ein zusammengesetzteres Gebilde auf. Gegenwärtig halten nur noch die starrsten Materialisten an dieser Ableugnung der «Lebenskraft» fest. Einer Reihe von Naturdenkern haben die Tatsachen gelehrt, daß man doch so etwas annehmen müsse wie Lebenskraft oder Lebensprinzip.
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>So kommt auf diese Art die neuere Wissenschaft in einem gewissen Sinne dem nahe, was die Geisteswissenschaft in bezug auf den Lebensleib sagt. Doch ist ein erheblicher Unterschied zwischen beiden. Die gegenwärtige Wissenschaft kommt aus den Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung durch Verstandeserwägungen zu der Annahme einer Art Lebenskraft. Dies ist aber nicht der Weg einer wirklichen Erforschung, von welcher die Geisteswissenschaft ausgeht, und aus deren Ergebnissen die letztere ihre Mitteilungen macht. - Es kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, wie sich in diesem Punkte die Geisteswissenschaft unterscheidet von der landläufigen Wissenschaft der Gegenwart. Diese betrachtet die Sinneserfahrung als die Grundlage allen Wissens, und was nicht auf dieser Grundlage aufgebaut werden kann, hält sie nicht für wißbar. Sie zieht aus den Eindrücken der Sinne Schlüsse und Folgerungen. Was aber darüber hinausgeht, das lehnt sie ab und sagt davon, es liege jenseits der Grenzen des menschlichen Erkennens. Für die Geisteswissenschaft gleicht eine solche Ansicht derjenigen eines Blinden, der nur dasjenige gelten lassen will, was man tasten kann, und was aus dem Getasteten durch Schlußfolgerung sich ergibt, und der die Aussagen der Sehenden als jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens ablehnt. Denn die Geisteswissenschaft zeigt, daß der Mensch entwickelungsfähig ist, daß er sich neue Welten durch Entfaltung neuer Organe erobern kann. Wie Farben und Licht um den Blinden sind, und dieser sie nur nicht wahrnehmen kann, weil er keine Organe dazu hat, so erklärt die Geisteswissenschaft: es gibt viele Welten um den Menschen herum, und dieser kann sie wahrnehmen, wenn er nur die notwendigen Organe dazu ausbildet. Wie der Blinde in eine neue Welt blickt, sobald er operiert ist, so kann der Mensch durch Entfaltung höherer Organe noch ganz andere Welten erkennen als diejenigen sind, die ihm zunächst die gewöhnlichen Sinne wahrnehmen lassen. Ob nun ein leiblich Blinder operierbar ist oder nicht, das hängt von der Beschaffenheit der Organe ab; jene höheren Organe aber, durch welche der Mensch in übergeordnete Welten eindringen kann, sind im Keime bei jedem Menschen vorhanden. Jeder kann sie entwickeln, der Geduld, Ausdauer und Energie dazu hat, jene Methoden auf sich anzuwenden, welche in den Aufsätzen: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? » beschrieben worden sind*. So spricht die Geisteswissenschaft überhaupt nicht: der Mensch habe durch seine Organisation Grenzen der Erkenntnis; sondern sie sagt: es gibt für den Menschen diejenigen Welten, für die er Wahrnehmungsorgane hat. Sie spricht nur von den Mitteln, die jeweiligen Grenzen zu erweitern. - So stellt sie sich auch zu der Erforschung des Lebens- oder Ätherleibes und alles dessen, was in dem folgenden noch als die höheren Glieder der Menschennatur angegeben wird. Sie gibt zu, daß der Erforschung der leiblichen Sinne nur der physische Leib zugänglich sein kann, und daß man von ihrem Gesichtspunkte aus höchstens durch Schlußfolgerungen auf einen höheren verfallen kann. Aber sie teilt mit, wie man sich eine Welt erschließen kann, in welcher diese höheren Glieder der menschlichen Natur vor dem Beobachter in ähnlicher Art auftauchen, wie vor dem operierten Blindgeborenen die Farben und das Licht der Gegenstände. Für diejenigen, welche ihre höheren Wahrnehmungsorgane entwickelt haben, ist der Äther- oder Lebensleib ein Gegenstand der Beobachtung, nicht der Verstandestätigkeit und Schlußfolgerung. ([[GA 034]], [01.05.1907](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga034.pdf#page=309&view=Fit), [S. 312-314](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga034.pdf#page=312&view=Fit))
##### Primat des Lebendigen
>Sie werden niemals begreifen können, wie durch Summierung von mechanischen, physikalischen und chemischen Vorgängen die Erscheinungen des Lebens erklärbar sein sollen. Daß sich Lebendiges in Lebloses verwandle, ist durchaus begreiflich und durch die tägliche Erfahrung bewiesen; daß sich Lebendiges aus Leblosem entwickle, widerstreitet aller in das Wesen der Dinge dringenden Beobachtung. Die unorganischen Vorgänge sind im organischen Körper in gesteigerter Form vorhanden, in einer Form, die ihnen innerhalb der unorganischen Natur nicht zukommt. Sie können sich nicht selbst zu organischer Tätigkeit steigern, sondern müssen, um dem Leben zu dienen, erst von einem Organismus eingefangen, angeeignet werden. ([[GA 030]], [Nachruf Wilhelm Preyer, 14.08.1897, S. 355](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga030.pdf#page=355&view=Fit))
##### Zusammenhang zwischen Lebens- und Denkkräften
Rudolf Steiner wies auf den fundamental wichtigen Zusammenhang zwischen den Lebenskräften des Menschen und seiner Denkfähigkeit hin. Der Ätherleib wird innerlich als Vorstellungs-bildende Kraft erlebt.
>Diese im Ätherleibe wirksamen Kräfte betätigen sich im Beginne des menschlichen Erdenlebens - am deutlichsten wahrend der Embryonalzeit - als Gestaltungs- und Wachstumskräfte. Im Verlaufe des Erdenlebens emanzipiert sich ein Teil dieser Kräfte von der Betätigung in Gestaltung und Wachstum und wird Denkkräfte, eben jene Kräfte, die für das gewöhnliche Bewußtsein die schattenhafte Gedankenwelt hervorbringen.
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>**Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, daß die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft.**
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>Und diese Denkkraft ist nur ein Teil der im Ätherischen webenden menschlichen Gestaltungs- und Wachstumskraft. Der andere Teil bleibt seiner im menschlichen Lebensbeginne innegehabten Aufgabe getreu. Nur weil der Mensch, wenn seine Gestaltung und sein Wachstum vorgerückt, das ist, bis zu einem gewissen Grade abgeschlossen sind, sich noch weiter entwickelt, kann das Ätherisch-Geistige, das im Organismus webt und lebt, im weiteren Leben als Denkkraft auftreten.
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>So offenbart sich der imaginativen geistigen Anschauung die bildsame (plastische) Kraft als ein Ätherisch-Geistiges von der einen Seite, das von der andern Seite als der Seelen-Inhalt des Denkens auftritt. ([[GA 027]], [S. 12-13](https://akanthosakademie.files.wordpress.com/2023/06/ga027.pdf#page=12&view=Fit))