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Ein Satz, der mir beim Recherchieren nicht mehr aus dem Kopf ging:
*Philosophie kennt kein Geschlecht – aber die Geschichte hat eines daraus gemacht.*
Ich weiß nicht, woher dieser Gedanke ursprünglich stammt, aber ich finde, er bringt das Problem ziemlich genau auf den Punkt. Denn in der Schule, in Philosophie oder auch im normalen Alltag sprechen wir fast nie über Frauen in der Geschichte der Philosophie. Dabei gab es sie. Und manchmal waren sie sogar so besonders, dass man sie lieber verschwinden ließ. Hypatia von Alexandria ist ein Beispiel dafür – sie war Philosophin, Mathematikerin, Astronomin und Lehrerin in einer Zeit, in der Frauen eigentlich keine Rolle in der Gelehrtenwelt spielen sollten. Gerade deshalb sollten wir sie kennen.
Geboren wurde Hypatia irgendwann um das Jahr 360 nach Christus in Alexandria, einer der größten und wichtigsten Städte der damaligen Zeit. Ihr Vater war der Mathematiker und Philosoph Theon, der sie selbst unterrichtete. Das war sehr ungewöhnlich, aber es erklärt, warum sie später selbst als eine der klügsten Köpfe ihrer Zeit galt. Hypatia war nicht nur schlau, sie war auch unglaublich diszipliniert und charismatisch. Viele Quellen beschreiben sie als schön, aber gleichzeitig sehr zurückhaltend. Sie trug einfache Kleidung, lebte enthaltsam und widmete ihr Leben dem Denken. Manche Männer waren in sie verliebt, aber sie soll sie alle abgewiesen haben. Ihre Schönheit war also da, aber sie wurde nie benutzt, um Macht auszuüben. Das ist vielleicht genau das, was so viele damals nicht verstanden haben – dass eine Frau schön und klug sein konnte, ohne sich unterzuordnen oder sich zu verkaufen.
Philosophisch gesehen war Hypatia eine Vertreterin des Neuplatonismus. Sie knüpfte an die Ideen von Plotin und Platon an, glaubte an das sogenannte „Eine“, also eine Art geistiges Urprinzip, das man durch Denken und innere Erkenntnis erreichen kann. Gleichzeitig war sie sehr wissenschaftlich. Sie bearbeitete mathematische Werke wie das Almagest von Ptolemäus, schrieb über Kegelschnitte, lehrte Astronomie und erklärte ihren Schülern, wie man Geräte wie das Astrolabium baut. In der Podcastfolge „Sternengeschichten 618“ über Hypatia wird beschrieben, dass sie nicht nur philosophisch dachte, sondern auch technische Entwicklungen vorantrieb, die später Grundlage für andere Entdeckungen wurden. Es ging ihr nie nur ums Theoretisieren, sondern immer auch um Wissen, das praktisch angewendet werden kann – und das macht sie so besonders. Was Hypatia ebenfalls auszeichnet, ist die Vielfalt ihrer Schüler. Sie unterrichtete öffentlich – das heißt, sie hielt Vorlesungen, zu denen nicht nur Heiden, sondern auch Christen kamen. Einer ihrer bekanntesten Schüler war Synesios von Kyrene, der später Bischof wurde. Er schrieb ihr viele Briefe, sogar über technische Dinge, was zeigt, dass er sie nicht nur als Philosophin, sondern auch als Wissenschaftlerin ernst nahm. Ihre Schule war ein Ort, an dem verschiedene Weltanschauungen aufeinandertrafen. In einer Stadt wie Alexandria, wo es oft Spannungen zwischen religiösen Gruppen gab, war das nicht ungefährlich. Trotzdem lehrte sie weiter – ruhig, klug, offen.
Doch genau das wurde ihr irgendwann zum Verhängnis. Um das Jahr 415 herum spitzte sich der Konflikt zwischen dem Stadthalter Orestes und dem christlichen Bischof Kyrill zu. Hypatia stand wohl Orestes näher, war aber gleichzeitig eine Frau, die öffentlich lehrte, kritisch dachte und nicht zum Christentum übertrat. Das reichte aus, um zur Zielscheibe zu werden. Ein wütender Mob – vermutlich aufgehetzt durch religiöse Eiferer – griff sie an, zerrte sie aus ihrem Wagen, schleifte sie durch die Stadt, tötete sie mit Tonscherben und zerstückelte ihren Körper. Ihr Tod war kein Unfall, sondern ein gezielter Angriff auf Vernunft, auf Unabhängigkeit – und auf eine Frau, die zu klug war, um ignoriert zu werden.
Hypatias Ermordung steht für einen Wendepunkt. Nach ihr ging es mit der antiken Philosophie und Wissenschaft in Alexandria bergab. Viele Philosophen flohen oder wurden mundtot gemacht. Dass ihr Name heute überhaupt noch bekannt ist, liegt daran, dass spätere Gelehrte und auch moderne Feministinnen sie wiederentdeckt haben. Sie ist ein Symbol, nicht nur für weibliche Philosophie, sondern für die Kraft des Denkens gegen die Macht der Gewalt. Hypatia hat bewiesen, dass Frauen in der Philosophie nicht nur mitdenken, sondern vorangehen können. Sie war keine Randfigur, sondern eine zentrale Denkerin, deren Einfluss über ihre Zeit hinausreicht.
Deshalb sollte Hypatia nicht vergessen werden. Sie gehört in den Kanon der Philosophiegeschichte – nicht, weil sie eine Frau war, sondern weil sie ein bedeutender Mensch war, der dachte, lehrte und starb, weil er anders war. Ihre Geschichte zeigt, dass weibliche Philosophie nicht erst heute existiert, sondern immer schon da war – nur hat man sie zu oft ausradiert. Hypatia ist ein Beispiel dafür, dass Denken mutig sein kann. Und dass man genau deshalb nie aufhören sollte, nachzufragen.
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