[[ORGANIK]]
[[Bildungsprinzipien]] | [[Botanik]] | [[Metamorphose]]
§ 1. Ein jeder, der das Wachstum der Pflanzen nur einigermaßen beobachtet, wird leicht bemerken, daß gewisse äußere Teile derselben sich manchmal **verwandeln** und in die Gestalt der nächstliegenden Teile bald ganz, bald mehr oder weniger **übergehen**. (S. 22)
§ 6. Die regelmäßige Metamorphose können wir auch die fortschreitende nennen: denn sie ist es, welche sich von den ersten Samenblättern bis zur letzten Ausbildung der Frucht immer stufenweise wirksam bemerken läßt, und **durch Umwandlung einer Gestalt in die andere, gleichsam auf einer geistigen Leiter**, zu jenem Gipfel der Natur, der Fortpflanzung durch zwei Geschlechter, hinauf steigt. (S. 22-23)
§ 32. Daß **die Blätter des Kelches eben dieselbigen Organe** seien, welche sich bisher als Stengelblätter ausgebildet sehen lassen, nun aber oft in sehr veränderter Gestalt um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt versammelt stehen, läßt sich, wie uns dünkt, auf das deutlichste nachweisen. (S. 30)
§ 41. Haben wir nun bemerkt, daß von den **Samenblättern** herauf eine große Ausdehnung und Ausbildung der **Blätter**, besonders ihrer Peripherie, und von da zu dem **Kelche** eine Zusammenziehung des Umkreises vor sich gehe; so bemerken wir, daß die **Krone** abermals durch eine Ausdehnung hervorgebracht werde. (S. 33)
§ 50. Und so entsteht ein **Staubwerkzeug**, wenn die Organe, die wir bisher als Kronenblätter sich ausbreiten gesehen, wieder in einem höchst zusammengezogenen und zugleich in einem höchst verfeinten Zustande erscheinen. Die oben vorgetragene Bemerkung wird dadurch abermals bestätigt und wir werden auf diese **abwechselnde Wirkung der Zusammenziehung und Ausdehnung**, wodurch die Natur endlich ans Ziel gelangt, immer aufmerksamer gemacht. (S. 35)
§ 55. Gleichfalls scheinen uns die eigentlichen Nebenkronen den Namen der **Nektarien** in dem oben angegebenen Sinne zu verdienen. Denn wenn die Bildung der **Kronenblätter** durch eine Ausdehnung geschieht, so werden dagegen die Nebenkronen durch eine Zusammenziehung, folglich auf eben die Weise wie die Staubwerkzeuge gebildet. (S. 37)
§ 67. War ich bisher bemüht, **die innere Identität der verschiedenen nacheinander entwickelten Pflanzenteile**, bei der größten Abweichung der äußern Gestalt, so viel es möglich gewesen, anschaulich zu machen; so wird man leicht vermuten können, daß nunmehr meine Absicht sei, auch die Struktur der weiblichen Teile auf diesem Wege zu erklären. (S. 40)
§ 73. (...) Vom Samen bis zu der höchsten Entwicklung des Stengelblattes bemerkten wir zuerst eine Ausdehnung, darauf sahen wir durch eine Zusammenziehung den Kelch entstehen, die Blumenblätter durch eine Ausdehnung, die Geschlechtsteile abermals durch eine Zusammenziehung; und wir werden nun bald die größte Ausdehnung in der Frucht, und die größte Konzentration in dem Samen gewahr werden. In diesen **sechs Schritten** vollendet die Natur unaufhaltsam das ewige Werk der Fortpflanzung der Vegetabilien durch zwei Geschlechter. (S. 42)
§ 79. Am meisten rückt uns die Natur diese **Blattähnlichkeit** aus den Augen, indem sie saftige und weiche oder holzartige und feste **Samenbehälter** bildet; allein sie wird unserer Aufmerksamkeit nicht entschlüpfen können, wenn wir ihr in allen Übergängen sorgfältig zu folgen wissen. (S. 44)
§ 81. Die letzte und größte Ausdehnung, welche die Pflanze in ihrem Wachstum vornimmt, zeigt sich in der **Frucht**. (S. 44)
§ 82. Dagegen finden wir, daß der **Same** in dem höchsten Grade von Zusammenziehung und Ausbildung seines Innern sich befindet. (S. 45)
§ 84. Und so **wären wir der Natur auf ihren Schritten so bedachtsam als möglich gefolgt**; wir hätten die äußere Gestalt der Pflanze in allen ihren Umwandlungen, von ihrer Entwickelung aus dem Samenkorn bis zur neuen Bildung desselben begleitet, und ohne Anmaßung, die ersten Triebfedern der Naturwirkungen entdecken zu wollen, **auf Äußerung der Kräfte, durch welche die Pflanze ein und ebendasselbe Organ nach und nach umbildet, unsre Aufmerksamkeit gerichtet**. (S. 46)
§ 102. Wir sind überzeugt, daß mit einiger Übung es nicht schwer sei, sich auf diesem Wege die mannigfaltigen Gestalten der Blumen und Früchte **zu erklären**; nur wird freilich dazu erfordert, daß man mit jenen oben festgestellten Begriffen der Ausdehnung und Zusammenziehung, der Zusammendrängung und Anastomose **wie mit algebraischen Formeln bequem zu operieren**, und sie da, wo sie hingehören, anzuwenden wisse. (S. 50)
§ 113. Betrachten wir eine Pflanze insofern sie ihre Lebenskraft äußert, so sehen wir dieses auf eine doppelte Art geschehen, zuerst durch das **Wachstum**, indem sie Stengel und Blätter hervorbringt, und sodann durch die **Fortpflanzung**, welche in dem Blüten- und Fruchtbau vollendet wird. Beschauen wir das Wachstum näher, so sehen wir, daß, indem die Pflanze sich von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortsetzt, **indem sie sproßt, gleichfalls eine Fortpflanzung geschehe, die sich von der Fortpflanzung durch Blüte und Frucht, welche auf einmal geschiehet, darin unterscheidet, daß sie sukzessiv ist,** daß sie sich in einer Folge einzelner Entwickelungen zeigt. Diese sprossende, nach und nach sich äußernde Kraft ist mit jener, welche auf einmal eine große Fortpflanzung entwickelt, auf das genauste verwandt. Man kann unter verschiedenen Umständen eine Pflanze nötigen, daß sie immerfort sprosse, man kann dagegen den Blütenstand beschleunigen. Jenes geschieht, wenn rohere Säfte der Pflanze in einem größeren Maße zudringen; dieses, wenn die geistigeren Kräfte in derselben Überwiegen. (S. 55-56)
§ 114. Schon dadurch, daß wir das **Sprossen** eine **sukzessive**, den Blüten- und Fruchtstand aber eine **simultane** **Fortpflanzung** genannt haben, ist auch die Art, wie sich beide äußern, bezeichnet worden. Eine Pflanze, welche sproßt, dehnt sich mehr oder weniger aus, sie entwickelt einen Stiel oder Stengel, die Zwischenräume von Knoten zu Knoten sind meist bemerkbar, und ihre Blätter breiten sich von dem Stengel nach allen Seiten zu aus. Eine Pflanze dagegen, welche blüht, hat sich in allen ihren Teilen zusammengezogen, Länge und Breite sind gleichsam aufgehoben und alle ihre Organe sind in einem höchst konzentrierten Zustande, zunächst an einander entwickelt. (S. 56)
§ 115. Es mag nun die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte bringen, so **sind es doch nur immer dieselbigen Organe**, welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten, die Vorschrift der Natur erfüllen. Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausgedehnt und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letztenmal auszudehnen. (S. 56)
§ 116. Diese Wirkung der Natur ist zugleich mit einer andern verbunden, mit der **Versammlung verschiedener Organe um ein Zentrum nach gewissen Zahlen** und Maßen, welche jedoch bei manchen Blumen oft unter gewissen Umständen weit überschritten und vielfach verändert werden. (S. 56-57)
§ 117. Auf gleiche Weise wirkt bei der Bildung der Blüten und Früchte eine **Anastomose** mit, wodurch die nahe aneinander gedrängten, höchst feinen Teile der Fruktifikation entweder auf die Zeit ihrer ganzen Dauer, oder auch nur auf einen Teil derselben innigst verbunden werden. (S. 57)
§ 118. Doch sind diese Erscheinungen der Annäherung, Zentralstellung und Anastomose nicht allein dem Blüten- und Fruchtstande eigen; wir können vielmehr etwas Ähnliches bei den Kotyledonen wahrnehmen und andere Pflanzenteile werden uns in der Folge reichen Stoff zu ähnlichen Betrachtungen geben. (S. 57)
§ 119. So wie wir nun die verschieden scheinenden Organe der sprossenden und blühenden Pflanze **alle aus einem einzigen, nämlich dem Blatte**, welches sich gewöhnlich an jedem Knoten entwickelt, zu erklären gesucht haben; so haben wir auch diejenigen Früchte, welche ihre Samen fest in sich zu verschließen pflegen, aus der Blattgestalt herzuleiten gewagt. (S. 57)
§ 120. Es verstehet sich hiervon selbst, daß wir **ein allgemeines Wort** haben müßten, wodurch wir dieses in so verschiedene Gestalten metamorphosierte Organ bezeichnen, und alle Erscheinungen seiner Gestalt damit vergleichen könnten: gegenwärtig müssen wir uns damit begnügen, daß wir uns gewöhnen **die Erscheinungen vorwärts und rückwärts gegeneinander zu halten**. Denn wir können ebensogut sagen: ein Staubwerkzeug sei ein zusammengezogenes Blumenblatt, als wir von dem Blumenblatte sagen können: es sei ein Staubgefäß im Zustande der Ausdehnung: ein Kelchblatt sei ein zusammengezogenes, einem gewissen Grad der Verfeinerung sich näherndes Stengelblatt, als wir von einem Stengelblatt sagen können, es sei ein durch Zudringen roherer Säfte ausgedehntes Kelchblatt. (S. 57)
§ 121. Ebenso läßt sich von dem **Stengel** sagen, er sei ein ausgedehnter **Blüten- und Fruchtstand**, wie wir von diesem prädiziert haben, er sei ein zusammengezogener Stengel. (S. 57)
§ 123. Und auf diese Weise habe ich mich bemüht, eine Meinung, welche viel Überzeugendes für mich hat, so **klar und vollständig als es mir möglich sein wollte, darzulegen**. Wenn solche dem ohngeachtet noch nicht völlig zur Evidenz gebracht ist; wenn sie noch manchen Widersprüchen ausgesetzt sein, und die vorgetragne Erklärungsart nicht überall anwendbar scheinen möchte, so wird es mir desto mehr Pflicht werden, auf alle Erinnerungen zu merken, und diese Materie in der Folge genauer und umständlicher abzuhandeln, um diese Vorstellungsart anschaulicher zu machen, und ihr einen allgemeinern Beifall zu erwerben, als sie vielleicht gegenwärtig nicht erwarten kann. (S. 58)
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Goethe, Johann Wolfgang von (1790, 1817, 1831): Die Metamorphose der Pflanzen. Zur Morphologie (Band I Heft 1). Berliner Ausgabe, Bd. 17